Chris

Der Wiener Schmäh

Wenn man an Wien denkt, kommen einem oft Bilder von prachtvollen Bauten, imposanten Kaffeehäusern und einer reichen kulturellen Geschichte in den Sinn. Doch jenseits von Sachertorte und Stephansdom gibt es ein Phänomen, das die Wiener Identität vielleicht noch tiefer prägt: der Wiener Schmäh. Dieses Wort, das so schwer zu definieren und doch so leicht zu spüren ist, beschreibt eine ganz besondere Art von Humor, eine Mischung aus Ironie, Charme, Melancholie und einem Hauch von Boshaftigkeit. Aber was genau macht den Wiener Schmäh aus, und warum ist er so tief in der Seele dieser Stadt verwurzelt?

Was ist der Wiener Schmäh?

Der Wiener Schmäh ist weit mehr als nur Humor. Er ist eine Lebenshaltung, eine Art, die Welt zu betrachten und auf sie zu reagieren. Im Grunde genommen ist der Wiener Schmäh eine raffinierte Form der Ironie, die oft von einer gewissen Traurigkeit und Melancholie durchzogen ist. Er ist subtil, manchmal schwer zu durchschauen und oft so geschickt formuliert, dass der wahre Kern der Aussage erst auf den zweiten Blick erkennbar wird.

Der Schmäh kann in einem liebevollen Neckerei stecken, in einer eleganten Umschreibung oder in einem scheinbar beiläufigen Kommentar, der doch eine tiefere Wahrheit oder Kritik enthält. In Wien ist es nicht unüblich, dass ein „Du Trottel!“ (was so viel wie „Du Dummkopf“ bedeutet) tatsächlich ein Ausdruck von Zuneigung ist, je nachdem, in welchem Tonfall es geäußert wird.

Die Wurzeln des Wiener Schmähs

Die Ursprünge des Wiener Schmähs sind eng mit der Geschichte und Kultur der Stadt verbunden. Wien, als ehemalige Hauptstadt eines großen, multikulturellen Imperiums, war immer ein Schmelztiegel der Kulturen, Sprachen und Ideen. Diese Vielfalt spiegelt sich auch im Schmäh wider, der Elemente aus dem Jiddischen, Ungarischen, Slawischen und Deutschen vereint.

Historisch gesehen war Wien auch eine Stadt, in der gesellschaftliche Konventionen und Etikette eine große Rolle spielten. Der Schmäh entwickelte sich als Mittel, um diese starren Strukturen zu unterlaufen, um in einer höflichen und dennoch verschmitzten Weise Kritik zu üben oder Missstände aufzuzeigen. Es ist eine Art von Widerstand, die in Worte verpackt ist, die oberflächlich betrachtet harmlos erscheinen mögen, aber bei näherer Betrachtung ihre scharfe Spitze zeigen.

Der Wiener Schmäh im Alltag

Der Wiener Schmäh begegnet einem überall in der Stadt – in den Kaffeehäusern, in den Heurigen und sogar in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Ein klassisches Beispiel ist der Umgang der Wiener mit Touristen, die oft ein leichtes Ziel für den Schmäh sind. Wenn ein Tourist nach dem Weg fragt und der Wiener ihm freundlich, aber in die Irre führend den falschen Weg weist, geschieht das nicht aus Böswilligkeit, sondern aus einer Art spielerischer Überlegenheit und einer Freude am Wortspiel.

Auch im Wiener Dialekt, der selbst eine Art von Schmäh ist, findet sich diese subtile Kunst wieder. Der Wiener Dialekt ist oft rau, aber herzhaft, voller Ironie und Selbstironie. Wenn ein Wiener sagt: „Mei, du hast ja an Schmäh!“ bedeutet das so viel wie „Du hast Humor“ oder „Du weißt, wie man das Leben nimmt“. Es ist ein Kompliment, das nicht nur den Humor, sondern auch den Geist des Gegenübers lobt.

Wiener Schmäh in der Literatur und im Film

Der Wiener Schmäh hat in der österreichischen Literatur und im Film einen festen Platz. Autoren wie Johann Nestroy, Peter Altenberg oder Helmut Qualtinger sind bekannt für ihre scharfsinnigen Beobachtungen und ihren trockenen Humor, der oft als Schmäh bezeichnet wird. Nestroy, ein Dramatiker des 19. Jahrhunderts, war ein Meister darin, soziale Kritik in seinen Stücken zu verpacken, ohne dabei die feine Linie zwischen Unterhaltung und Belehrung zu überschreiten.

Im Film findet sich der Wiener Schmäh in den Werken von Regisseuren wie Ernst Marischka oder Ulrich Seidl wieder. In den klassischen Sissi-Filmen, die von Marischka inszeniert wurden, ist der Schmäh oft subtil, versteckt hinter den höfischen Fassaden. Seidls Filme hingegen zeigen den Schmäh in seiner dunkelsten Form, wo der Humor fast ins Zynische übergeht, aber dennoch den Wiener Blick auf das Leben perfekt einfängt.

Der Wiener Schmäh und die Melancholie

Ein wichtiger Aspekt des Wiener Schmähs ist die Melancholie, die oft damit einhergeht. Wien, das so oft als Stadt der Musik und des Genusses bezeichnet wird, hat auch eine tief verwurzelte Beziehung zur Traurigkeit. Diese Melancholie zeigt sich im Schmäh, der oft einen Hauch von Wehmut und Nachdenklichkeit mit sich trägt.

Ein klassisches Beispiel hierfür ist das „Lamento“, ein typisches Element des Wiener Liedes, in dem die Schönheiten und Leiden des Lebens besungen werden. Der Schmäh in solchen Liedern ist bittersüß, er lacht über die Widrigkeiten des Lebens, während er sie gleichzeitig anerkennt und akzeptiert.

Die moderne Interpretation des Wiener Schmähs

Auch heute lebt der Wiener Schmäh weiter und passt sich der modernen Zeit an. Junge Kabarettisten und Comedians wie Josef Hader oder Michael Niavarani haben den Schmäh in die Gegenwart gebracht und zeigen, dass dieser Humor immer noch eine große Rolle in der österreichischen Kultur spielt. Sie verbinden den klassischen Schmäh mit aktuellen Themen und machen ihn für ein neues Publikum zugänglich.

In der modernen Interpretation ist der Wiener Schmäh oft direkter und manchmal auch provokanter geworden, aber er hat nichts von seinem Charme und seiner hintergründigen Schärfe verloren. Er bleibt eine Kunstform, die es versteht, die Balance zwischen Humor und Ernsthaftigkeit, zwischen Oberflächlichkeit und Tiefe zu halten.

Fazit: Der Wiener Schmäh als Ausdruck einer Lebensphilosophie

Der Wiener Schmäh ist mehr als nur eine Art zu sprechen oder zu scherzen. Er ist ein Spiegel der Wiener Seele, die eine einzigartige Mischung aus Lebensfreude und Melancholie, aus Offenheit und Zurückhaltung verkörpert. Der Schmäh ist eine Einladung, das Leben nicht immer ganz so ernst zu nehmen, sich über die kleinen und großen Unzulänglichkeiten des Alltags hinwegzusetzen und dabei dennoch die Tragik des Lebens nicht zu vergessen.

Für Wiener ist der Schmäh eine Art Lebensphilosophie, die sie durch die Höhen und Tiefen des Lebens trägt. Für Außenstehende mag er manchmal schwer zu verstehen sein, doch wer ihn einmal erfasst hat, wird ihn nicht mehr loslassen. Der Wiener Schmäh ist ein Geschenk, das man nur in Wien in seiner vollen Pracht erleben kann – und es ist ein Erlebnis, das man sich nicht entgehen lassen sollte.